Tien-Shan Expedition 1999

Nördlicher Tien-Shan, Issuk-Kul, Zentraler Tien-Shan: Khan-Tengri (7010 m), Sev. Tschapajew (6095 m), Pesni Abaja (4901 m)

8. August 1999 bis 6. September 1999, Gipfelerfolg am 27. August

Carol Baunack, Matthias Guntau, Michaela Hohberg,
Thomas Guido Hohberg, Horst Heimo Jahn, Gunther Knauthe,
Robert Lippmann, Axel Pfefferkorn, Gisela Jana Szilagyi, Thomas Wolfgang Voigt  Photo: Click here

Organisation (Kasachstan): Marat Ainsanov, Kolja, Schenja, Wolodja


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Stationen der Expedition:
Berlin, Almaty, Issyk, Issyk-Tal, Kokbulak-Paß, Pik Fußballfeld (ca. 4200 m), Tal des Chon-Kemin, Kugantor-Paß, Issuk-Kul, Karakol, Maid Adyr, Südl. Inylchek-Gletscher, Khan-Tengri (7010 m), Sev. Tschapajew (6095 m), Merzbacher Wiese, Pesni Abaja (4901 m), Bayankol, Almaty, Berlin.



Khan-Tengri (7010 m) Khan-Tengri (7010 m) Khan-Tengri (7010 m) Khan-Tengri (7010 m) Khan-Tengri (7010 m)



 Ein paar Scans vom Treffen bei Saupsdorf im November 2000
 High Altitude Retinal Haemorrhages: Useful Information
 Khan-Tengri Aufstiesroute: g47.gif
 Tien-Shan-Gebirge: zts.gif
 Matzes Mittelasien-Seite: http://www.matze.spider-net.de/midasia.htm
 Matzes Tagebuch der 1999er Expedition: http://www.matze.spider-net.de/Tengri1.htm
 Photos auf dieser Seite: Aufstieg 1, Aufstieg 2, Axel, Aufstieg 3, Kolja, Gipfelphoto, Gipfelphoto 2


Expeditionstagebuch Version 0.96

 

 

8. August
Berlin-St. Petersburg-Almaty

Nachdem gestern alle Nicht-Berliner (bis auf Carol und Robert) bei mir eingetroffen waren und wir im "Labyrinthos" zünftig zum Abschied speisten, haben wir (wenigstens Axel und ich) die Nacht im Prater und "Schwarz Sauer" auf ein unbedingt notwendiges Maß zurechtgestutzt. Carol und Robert kamen heute direkt nach Schönefeld, nachdem sie erst gestern aus Spitzbergen in Jena angekommen waren. Als erstes Problem steht uns nun gleich der Check-In mit einigermaßen Übergepäck bevor. Das geht aber problemlos, wir argumentieren erfolgreich, daß wir eine Gruppe sind (der eine mehr, der andere weniger) und schmuggeln auch noch Handgepäck. Ich trage meine Steigeisen in der Hand an Bord. Die erste Station ist St. Petersburg. Wir wollen im Transitbereich bleiben, aber dann sagt uns eine Mitarbeiterin von Pulkovo-Air, daß uns nach der Paßkontrolle (Einreise Rußland) unser Gepäck erwartet, mit welchem wir neu einchecken müssen. Zerknirscht begeben wir uns zur Grenzkontrolle. Nun ist aber unser kirgisisches Gruppenvisum (eine kirgisische Innovation für nur DM 40 pro Nase, die uns aber noch manche Extratour bescheren wird) erst ab morgen gültig. Durch Flug und Zeitverschiebung werden wir ja einen ganzen Tag verlieren und erst morgen in Almaty ankommen. Jetzt können wir also russischen Boden nicht betreten. Das sei eine "interessante Situation", stellt der junge Grenzbeamte, der ganz nett und entgegenkommend ist, nüchtern fest. Er erreicht dann, daß eine wiederum nette Mitarbeiterin der Fluggesellschaft das Durchreichen unserer Gepäckstücke veranlaßt. So bleiben wir im Transitbereich und sparen uns auch den abermaligen Check-In mit Gewichtskontrolle. Später besorgt uns die Dame noch Bordkarten und sorgt dafür, daß wir als erste an Bord können. Diese Extrabehandlung ist etwas peinlich, bedeutet aber leisere Plätze im vorderen, auch weniger besetzten Teil des sowjetischen Flugzeuges.

 

9. August
Vorbereitungen der Eingehtour

Die Ankunft liegt mitten in der Nacht. Freundlich werden wir von Marat begrüßt – er hat sich nur in der Leibesfülle etwas verändert (scheint mir). Mit einem gemieteten Minivan und seinem Niva fahren wir ins Hotel "Almaty". Halb elf stehen wir auf und Marat bewirtet uns mit Koteletts und Kartoffelpüree, was seine Mutter und er im Nachbarzimmer zubereitet haben. Dann folgen noch ein Marktbesuch und Brotkauf zur Komplettierung der Lebensmittelvorräte für die Eingehtour und wir kommen viel später als geplant los. Jedenfalls erreichen wir Issyk erst am späten Nachmittag und bleiben daher die folgende Nacht noch im "camp of forest men", direkt bei der Staumauer gegen Muren. Hier treffen wir das erste mal auf Kolja und Wolodja, die zwei kasachischen Alpinisten, die uns durch das nördliche Tien-Shan (Kolja auch im Zentralen) begleiten werden. Wir reden aber nicht viel – irgendwie herrscht dicke Luft, Kolja hat bei einer Flußquerung alle Papiere und Walkman eingebüßt. Außerdem finden die beiden, daß Marat viel zu viele Lebensmittel beschafft hat, von denen sie natürlich die meisten tragen sollen. Schon gestern haben sie Produkte hoch ins Issyk-Tal getragen und ein Lager eingerichtet. Dort wartet im Moment Schenja, unsere Köchin, auf uns.

 

10. August
Eingehtour im Transili-Alatau (Nördlicher Tien-Shan)
Im Issyk-Tal

7.00 Uhr aufstehen, Frühstück, Zeltabbau. Gegen 9.00 Uhr kommen wir los. Der Weg im Issyk-Tal ist schlecht. Und wie wir von den Kasachen erfahren wird er von Jahr zu Jahr schlechter; zu wenige Bergsteiger gehen die Wege, gepflegt werden sie nicht und zudem gehen noch Muren ab. Auch vor zwei Jahren war der Weg schon ein Problem, ich bin also vor allem gespannt, wie die notwendigen Flußquerungen ablaufen. Wir gehen abwechselnd auf beiden Flußseiten, zum Teil auf schmalen und unsicheren Pfaden an den steilen Flußhängen. Manchmal ist der Weg durch Steinmänner gekennzeichnet. Erstaunlicherweise gehen die Querungen zwar gefährlich, aber problemlos von statten. Wir balancieren sämtlich auf Baumstämmen. Einmal stürzt Thomas und kommt auf seinem Rucksack zum liegen. Natürlich passiert das an einer unspektakulären und ungefährlichen Stelle. Schließlich bin ich froh als wir den Wald erreichen und der Weg sich bessert, aber da sind wir auch schon im Lager auf etwa 2300 m. Zuerst essen wir Mittag – Schenja hat das erste mal gekocht. Nachdem wir am frühen Nachmittag nur gegammelt haben schlägt Tovo vor, etwas Ausrüstung und vor allem Produkte schon weiter hoch zu tragen. Wir bringen sie auf 2600 m und sichern sie auf einem kleinen Fels gegen Bären und "russisch Leute" (Kolja). Letztere richten unweit ihr Lager ein – wie es aussieht Urlauber, die eher dem Vodka als höheren Gipfelerfolgen zugetan sind. Wir sitzen am Abend noch gemütlich am Lagerfeuer, jedoch ohne das russische Volksrauschmittel.

 

11. August
Aus dem Issyk-Tal zum Lager am Akkol-See

Zügig kommen wir auf das Hochplateau, wo wir gestern unser Depot eingerichtet haben. Von nun an wird es schwerer. Vor uns liegt ein langer Geröllhang. Ich erinnere mich aber ein einen vernünftigen Weg, der auf östlicher Seite durch die vielen Steine führt und packe meinen Rucksack bis an die Grenze des Erträglichen (sic), vielleicht knapp 40 kg (Unmengen Würfelzucker). Mir ist das lieber als nochmals herunterzusteigen und Sachen nachzuholen, was in erster Linie Tovo plant. Als letzte gehen Thomas und ich also los – nur gefolgt von Wolodja, der uns aber bald überholt. Er sucht aber nicht den Weg, wie ich später erkenne, sondern steigt geradewegs in den Hang ein und durch. Aus dem einfachen Weg wird also nichts. Und während ich noch sinniere ob meine Erinnerung mich trügt oder der Weg verschüttet ist (daß Wolodja das Steigen im Geröll in der direkten Fallinie vorzieht kommt mir nicht in den Sinn) versteige ich mich an einer Flanke, welche die Sicht auf die Vorausgehenden verbietet. Als ich den Bergrücken erreiche, sehe ich die Gruppe unterhalb beim Mittag sitzen. Ich will keinen Höhenmeter verschenken und quere im Geröll oberhalb. Wolodja winkt mir zu, ich soll ruhig weiter den direkten "Weg"... "Aktivnaja Aklimatisatia" denke ich und gehe langsam aber stetig weiter. Nach der letzten Stufe bin ich – mit Ausnahme von Wolodja – immer noch der Erste, da ich einfach keine Pause mache. Langsam bin ich. Von Wolodja ist jedoch nichts mehr zu sehen und ich finde auch beim Passieren des Akkol-Sees keinen Weg (später erkenne ich ihn oberhalb am Hang). Wütend über diese unnötige Erschwernis klettere ich über die Felsbrocken bis ich kurz vor dem Lagerplatz (nach 4 Stunden Aufstieg) am Hydrologencamp (Name von 1997) euphorisch auf zwei Kasachen treffe, die ich überschwenglich begrüße und auf ein gemeinsames Photo einlade. Im Lager lege ich mich gleich nach dem Zeltbau neben selbiges zum ausruhen. Inzwischen ziehen am Himmel Wolken auf und ich spüre doch die Folgen langer Sonneneinwirkung auf meinen Oberschenkeln. Axel, Heimo und Jana bringen schon Ausrüstung weiter nach oben. Tovo, Carol und Robert steigen erneut ab und holen noch Produkte von unten. Gegen 18.00 Uhr holt mich Matze aus dem Halbschlaf – er hat eine Brille dabei und wir können ein bißchen Sonnenfinsternis gucken. Lang geht das aber nicht. Erst hindern uns immer wieder Wolken, dann verschwindet Clara hinter dem gegenüberliegenden Bergrücken.

 

12. August
Kreizer Avrora dal signal na schturmu peremytschki Kokbulak

Durch mein frühes Verschwinden in den Tiefen meiner Daunen-Schlafkombination aus Jacke und Fußsack habe ich nicht bemerkt, daß abends noch Marat mit 20 Broten und Gaskartuchen angekommen ist. Produkte haben wir jetzt wirklich genug. Das Wetter ist nunmehr eher schlecht. 12.00 Uhr gehen wir weiter, nur Kolja, Wolodja und Schenja wollen erst später folgen. Wir haben uns nur etwa 2 h Weg vorgenommen, den Kokbulak-Paß schaffen wir heute sowieso nicht. Marat wird zurückgehen und den in einer Woche vorgesehenen Transfer ins basecamp vorbereiten. Wir gehen weniger als 2 h im Regen und erreichen das Depot von Axel, Jana, Heimo. Dichter Nebel. Und manchmal Uneinigkeit, wo es langgeht. Offensichtlich sind alle unzufrieden mit der kurzen Tour und wollen noch ein Stück weiter. Im Nebel läßt sich aber nicht ausmachen, wann die letzte vernünftige Zeltmöglichkeit erreicht ist. Während der Beratungen und der Pionierarbeit (besonders Tovo und Heimo, ich kann mich überhaupt nicht motivieren) friere ich meistens und fürchte, mich zu erkälten. Schließlich haben wir einen Platz gefunden. Und während sich Kolja und Schenja im Tal irren und folglich vollkommen versteigen, Wolodja uns aber findet und wir Tee kochen, fängt es richtig zu schneien an. Wiederum bringen wir noch einen Teil der aktuell nicht benötigten Ausrüstung noch ein Stück voran, heute Richtung Paß auf den Gletscher bis auf 3750 m, etwa 200 m unterhalb des Passes. Gegen halb zehn gehen wir bei Schneeregen in die Zelte. Nach zwei Aspirin legt sich mein Gefühl der Überanstrengung und beginnenden Erkältung.

 

13. August
Über den Kokbulak-Paß zum Rand des Korschenewskovo-Gletschers

Spätes Aufstehen. Gegen 10.00 Uhr schneit es immer noch. Kolja meint, daß es aufhören wird und so wollen wir noch warten, vielleicht bis gegen zwei. Da ich die volle Montur schon angelegt habe und mir warm ist, gehe ich nicht ins Zelt zurück, sondern dahle in der Gegend rum (Schnee umgraben). Thomas und Michaela haben von der Startverschiebung nichts mitbekommen, bauen ihr Zelt ab und machen sich startklar. Da der Weg schon gestern begangen und also bekannt ist, gehen die beiden schon mal los, am liebsten wäre ich mit, aber Matze will noch im Zelt bleiben. Ich dahle weiter. Gegen Eins geht es endlich los. Ich bin zuerst fertig und gehe als Erster. Immer in den Spuren der zwei Frühstarter. Nach etwa einer Stunde biegen die Spuren nach links ab auf eine Moräne. Zu früh, finden alle, besonders Axel, der gestern noch eigene Steinmänner gebaut hat. Ich zweifle, wann der rechte Einstieg über die Moräne auf den Gletscher kommt. Da ich links von der Gruppe gehe, kann ich sehen, daß die Spuren bis wir unser Depot erreichen nicht zurückgekommen sind. Am Depot ist von Thomas und Michaela keine Spur. Nur Schnee. Auch Nebel. Vielleicht 30 m Sicht. Kolja will sofort eine Suchaktion starten. Und nachdem wir Tee gekocht haben, starten Wolodja, Kolja, Tovo und Heimo zur Spuren- und Vermißtensuche. Inzwischen gehen Axel, Jana, Matze, Carol, Robert und ich Richtung Kokbulak-Paß. Ich versuche mich an den Weg zu erinnern. Das klappt trotz meiner Unsicherheit und des Nebels einigermaßen. Dennoch bin ich wegen möglicher Spalten beunruhigt, aber schließlich ist nur eine kleine Randspalte zu umgehen. Auf dem Kokbulak-Paß (anderthalb Stunden vom Depot, etwa 4000 m) bin ich reichlich erschöpft, mehr vom Sondieren mit den Stöcken als vom Steigen. Wir haben zunächst unsere Sachen hochgebracht, steigen nun wieder zum Depotplatz, wo aber nur Schenja mit Tee wartet und friert. Bald frieren wir auch. Aber dann kommen Sucher und Gesuchte – wir sind wieder zusammen. Heute sei Freitag, der 13., stellt Kolja grinsend fest. Wir starten gleich mit der zweiten Ladung Gepäck und als ich den Paß das zweite mal erreiche, wickle ich mich vorsichtshalber gleich in die warme Daunenjacke. Es ist sehr kalt und windig. Und wieder trügt meine Erinnerung. Was ich als kurzen Weg in Erinnerung habe, der Abstieg zum Zeltplatz, entpuppt sich als langer Marsch. Wegen der Fehleinschätzung und der Überzahl an noch vorhandenen Produkten lade ich mir ein irrsinniges Gepäck auf. Ich bin gar nicht mehr in der Lage, den Rucksack ohne Hilfe zu schultern. Und wieder geht Wolodja, dem wir folgen, nicht den Weg, sondern rennt querfeldein. Beim Steigen im Geröll, das natürlich unter der Last extreme Mühe bereitet, kann ich dem Tempo nicht folgen und falle zurück. Langsam aber stetig steige ich ab; genau an die Stelle, wo unser Camp vor zwei Jahren stand. Aber da finde ich niemand. Noch bevor ich das Überlegen richtig beginne, höre ich Wolodja von oben rufen. Vielleicht einhundert Höhenmeter trennen uns. Er steigt zu mir ab und berichtet von einem besseren Platz hinter dem Bergrücken. Wir teilen uns das Gepäck – allerdings in einer sehr ungleichen Relation. Er nimmt meinen Rucksack, ich eine kleine Einkaufstasche mit vielleicht 10 kg. Schneller als ich ihm folgen kann steigt Wolodja unter Keuchen hinauf und wir erreichen in einer knappen halben Stunde das Lager. In der kalten und regnerischen Dämmerung warte ich noch das Abendessen ab und verschwinde nach Aspirin und Tee müde in der Daune. Mein Puls geht schnell und ich schlafe wenig.

 

14. August
Im Schatten des Talgar
Tagestour auf den Pik Fußballfeld

Gegen zehn erwacht Leben im Kreis der fünf Zelte. Ab und an sehen wir den Talgar (5020 m) durch die Wolken gucken – einen Gipfelversuch werden wir aber nicht starten. Wir müssen morgen weiter Richtung Süden um unsere Verabredung am 17. südlich des Kugantor-Passes mit Marat zu halten. Wir entschließen uns zu einer Tagestour auf den Pik Fußballfeld (ca. 4150 m, unser Name), ein Vorgipfel des Meschduutesnij (Zwischenfels) östlich des Kokbulak-Passes. Der Weg führt durch Geröll Richtung Paß, biegt dann aber rechts ab und wir steigen durch einen Schneehang direkt auf den Gipfel zu. Seil, Pickel und Eisen können am Rucksack bleiben. Steiler als 40 Grad ist es sicher nicht. Der höchste Punkt ist dann praktisch nicht auszumachen auf der weiten schneebedeckten Kuppe. Wir bleiben etwa eine Stunde da. Das Wetter hat sich gebessert und wir haben zwischen weißen Wolken einen ganz guten Blick nach Westen und Süden, also auch auf den Talgar und die beeindruckenden Gletscher (-brüche) an seinem östlichen Zustieg (Korschenewskovo). Als wir nach 17.00 Uhr im Lager eintreffen, hat es sich wieder zugezogen. Wir haben ungewöhnlich kaltes und regnerisches Wetter. Die Kasachen und auch meine Erfahrung mit dem Transili-Alatau bestätigen dies. Gegen abend ist es schon wieder unter Null.

 

15. August
Durch das Tal des Chon-Kemin bis zum südwestlichen Talgar

Als ich gegen halb sieben kurz aus dem Zelt lunse, sehe ich nicht ein Wölkchen. Ich stehe gleich auf und bringe mich mit dem Photoapparat in Position. Zusammen mit Thomas schieße ich eine ganze Reihe vom glühenden Talgar. Bei dem wettermäßig schönen Morgen lassen wir uns mächtig Zeit mit Packen und Räumen. Das seit Mahlzeiten verschmutzte Geschirr wasche ich mal wieder im klaren Eiswaser eines kleinen Tümpels. Alles läuft sehr relaxed. Entspannung nach den Aufregungen der letzten Tage. Erst gegen zwölf starten wir und überqueren längs talwärts den Gletscher und seine Müllhalden im Tal des Chon-Kemin (südl. Issyk-Tal). Unterhalb des Gletschers folgt noch etwas Geröll, dann aber ein einfacher Weg in dem landschaftlich beeindruckenden Tal. Gegen 19.00 Uhr erreichen wir den von Westen kommenden südwestlichen Talgar, der mächtig viel Wasser führt (auf etwa 2800 m). Wir bauen die Zelte auf und liegen noch eine Weile in der schönen Wiese auf der das Edelweiß so wächst wie bei uns der Löwenzahn. Wieder ist es – trotz des sonnigen Wetters – relativ kalt. Wir sitzen nach dem Abendbrot noch eine Weile bei Wolodja, Schenja und Kolja im Zelt und hören von Khan-Tengri-Winterbesteigungen...

 

16. August
Flußquerungen: südwestlicher Talgar und Schangürük
Pferdeverladung und Aufstieg Richtung Kugantor-Paß

Gegen sieben stehen wir – pünktlich wie abgesprochen – auf. Noch ohne Frühstück machen wir uns gleich an die Flußquerung. Ein heikles Unterfangen. Seit gestern abend hat die Strömung kaum nachgelassen und ist wohl so ziemlich am Rande dessen, was man bewältigen kann. Wir suchen zuerst eine ganze Weile nach einer geeigneten Stelle. Wolodja nimmt (wegen seiner überdurchschnittlichen Statur sicher mit einer gewissen Zwangsläufigkeit) die Sache in die Hand und testet verschiedene Stellen. Selbst ihm geht das Wasser oft bis zur Hüfte und zahlreiche Versuche scheitern. Schließlich gelingt doch eine Passage und wir können ein Seil spannen. Es bietet ausreichend Halt und nacheinander erreichen wir das andere Ufer. Leider gehen einige Sandalen verloren, gegen welche wir die Bergschuhe zur Querung eingetauscht hatten. Das ganze Manöver nimmt viel Zeit in Anspruch und erst kurz vor Zehn verlassen wir endgültig das Chon-Kemin-Tal. Der Weg führt nun in einer Rechtsbiegung um den beginnenden Bergrücken zwischen südweststlichem Talgar und Schangürük weiter Richtung Süden, während also, wiederum von Westen kommend; das zweite, mächtigere Schangürük-Tal hier sein Ende nimmt. Im Prinzip befinden wir uns am Vereinigungsort von mindestens drei Tälern, wobei Chon-Kemin (südliches Issyk) und Schangürük-Tal, beide mit breiten und mächtigen Flüssen, dominieren. So steht uns nun noch eine schwierigere Fluß-Querung bevor. Von Hirten, die uns gegen ein paar Dollar dafür ihre Pferde zur Verfügung stellen könnten, ist weit und breit nichts zu sehen. So müssen wir zunächst weit flußaufwärts gehen. Der ausgetretene Pfad läuft auf ein Furt zu aber eine Querung an dieser Stelle ist aussichtslos. Offenbar führen in Folge des kalten und insbesondere nassen Wetters, von dem die Kasachen gesprochen haben, die Flüsse besonders viel Wasser. Schließlich nehmen wir die Durchschreitung doch in Angriff. Wieder geht Wolodja mit Seil vor und wir können es spannen. Ich selbst empfinde die zweite Querung nicht als schwieriger – jedoch hat ein Teil der Frauen aus der Expedition seine Schwierigkeiten. Der Schangürük ist insgesamt stärker und somit die Passage bei vielleicht ähnlichen Strömungsbedingungen sehr viel weiter. Möglicherweise haben auch die Kräfte nachgelassen. Eindrucksvoll staut sich das Wasser, zuerst nur an den Oberschenkeln, dann an der Hüfte und es bildet sich eine bemerkenswerte Welle. Sobald diese den Oberkörper erfaßt, der dann dem Wasser noch viel mehr Widerstand bietet als die Beine, nimmt die notwendige Kraft für den Halt am Seil und die Fortbewegung rasch nicht zu leistende Ausmaße an. Der Körper knickt ein und das fast gänzliche Abtauchen in den Strom macht alles noch viel schlimmer. So ist einiges an Hilfs- und Rettungsaktionen notwendig und wir sind fast ausnahmslos müde als wir schließlich doch gemeinsam mehr oder weniger naß angekommen sind. Selbst Wolodja, der sich allerdings besonders engagiert hat, stöhnt. Und wie zum Hohn kommen gerade jetzt zwei Hirten. Auf ihren Gäulen sitzend sehen sie dem Treiben amüsiert zu. Wolodja macht sich gleich aus dem Staub, ein schöneres Plätzchen für das Frühstück suchen. Wir finden jenes dann an einem klaren, kleinen Bach in Sichtweite der Jurten. Inzwischen ist es schon 13.00 Uhr. Das Frühstück, insbesondere aber unsere Verrichtungen und Trocknungen nehmen einige Zeit in Anspruch. Als wir dann Richtung Kugantor-Paß aufbrechen, bieten uns die Hirten diesmal Tragedienste mit ihren Pferden an. Letztere hatte aber niemand gefragt, so daß sich an die langwierigen Preisverhandlungen (schließlich $ 30 für alle Rucksäcke) noch sehr viel zeitraubendere Aufsattelbemühungen anschließen. Zumeist mit Prusiken binden wir jeweils zwei Rucksäcke aneinander und werfen sie dann über das Pferd. Im Idealfall hängt dann auf jeder Seite einer und das nächste Bündel folgt. Bei zwei Pferden klappt das leidlich. Das dritte jedoch geht total durch und ich (der sich im Moment des Aufwerfens immer in sichere Entfernung von den Pferden bringt) bewundere vor allem Axel, der sich zusammen mit dem Kasachen und dem Rucksackbündel immer wieder an das Pferd anschleicht. Dem folgt dann regelmäßig ein gewaltiger Satz des Pferdes und den Packern fliegen die Rucksäcke um die Ohren. Inzwischen sind wir nur noch zu sechst (Axel, Tovo, Heimo, Schenja, Kolja, ich) – die anderen waren "ihren" Pferden direkt gefolgt. Einmal will der jüngere Hirte das arme und inzwischen völlig aufgelöste Tier beruhigen (vielleicht auch auspowern) und reitet eine größere Runde. Wir sehen dann aber zuerst zwei Pferde zurückkommen, mit Abstand gefolgt vom Hirten (zu Fuß!) und seinem Hund. Letzterem ist das ganze völlig egal und inzwischen macht sich auch bei uns eine gewisse Lethargie breit. Wir schließen Wetten ab und die Quote deutet eher in Richtung selber tragen. Das Schauspiel geht insgesamt mehrere Stunden und schließlich gewinne ich Vodka und Wein. Ich hatte gegen das Pferd gesetzt. Wir gehen – schon in der Abendstimmung – etwa eine Stunde über die Bergrücken einen Pfad folgend, meist über Gras, manchmal reichen die Büschel kniehoch. Vielleicht 100 Höhenmeter vor dem Lager, das die erfolgreichen Gepäckverlader schon errichtet haben, begegnen uns ihre zwei willigen Tiere nebst Hirten. Nachdem wir den Preis kurz neu verhandelt haben, können wir den Endspurt zum Abendessen lastenfrei zurücklegen. So toll ist das aber auch nicht. Am Bergrücken gegenüber weiden die Rinder unserer Carrier. Nachdem Robert und Axel sich noch als Sportschützen an der Büchse der Hirten gerieren, lassen diese uns auf etwa 3360 m (angeblich der letzten Wasserstelle vor dem Paß) allein. Abendessen, Tee. Herrlichstes Wetter. Ich teste meinen Biwaksack in der kalten, sternklaren Nacht.

 

17. August
Über den Kugantor-Paß zu MTF

Gegen 10.00 Uhr kommen wir auf die Beine und gegen 11.00 los. Der Weg führt durch Geröll am westlichen Seitenhang des Tales bis zum Einstieg ins Schneefeld und quert dieses dann geradewegs auf die linke Seite. Dort ist der Einstieg in den Kugantor-Paß (3908 m), den wir halb drei erreichen. Einige Vodkaflaschen liegen hier. Im dunstigen Horizont kann man den Issuk-Kul erahnen. Während ein Teil von uns noch auf einen kleinen Gipfel westwärts klettert, andere ausruhen und essen, steigen Wolodja, Kolja und Schenja schon ab. Ich verlasse den Paß als letzter und sehe sie erst nach einer halben Stunde Abstieg wieder, als uns Marat begrüßt, der uns mit drei Pferden für die Rucksäcke (!) überraschen will. Ich vermute nichts gutes und gehe in Deckung. Das Beladen geht aber diesmal schneller und wir steigen zügig talwärts. Da mir Abstiege liegen, bilde ich mit Heimo, Axel und Michaela so eine Art Spitzengruppe und ohne Rücksicht auf den Rest gehen wir voran. Der Weg ist gut, doch frage ich mich, wie die ausladend bepackten Pferde um hervorstehende Felsen kommen und enge Stellen passieren wollen. Später sehen wir, daß unsere Rucksäcke noch stärker als am Vortag unter der Verladung gelitten haben. Wie zu hören war, sind sie auch mehrmals abgestürzt. Weiter unten warten wieder Flußquerungen auf uns, keine schwierigen, dafür aber umso zahlreicher. Die letzten erfordern eigentlich das Ausziehen der Schuhe. Heimo geht jedoch aus Trotz mit Schuhen durch. Carol, Robert, Axel und ich kämpfen. Von Stein zu Stein und mit gewagten Sprüngen an engen (aber dafür tiefen) Passagen. Ausgerechnet bei der letzten Querung mißlingt mir ein Sprung und ich gehe mit nassen Füßen (pitsch-patsch) die letzten Meter hinunter auf 2300 m zu MTF, wo bei einer kleinen Sommersiedlung kirgisischer Hirten ein umgebauter Ural-Mannschaftswagen auf uns wartet. Zum Trocknen meiner Schuhe kommt es aber nicht, da uns ein Kirgise einlädt und nachdem andere der Einladung folgten, er auch bei mir nicht locker läßt. So sitzen wir unversehens in einer Jurte mit fünf Typen, die betonen, daß sie nicht Kirgisen ("Kirgis"), sondern "Krigris" sind. Es wird erst Tee (so lautete die Einladung), dann aber vergorene Stutenmilch ("Bier") gereicht. Dazu Rahm und Brot. Einer der Krigris hat offenbar schon zuviel Bier getrunken. Vielleicht war aber auch Vodka im Spiel. Als wir die Ankunft unseres Gepäcks vermuten, gehe ich kurz zum Ural, um ein paar Riegel als Gastgeschenk zu holen damit wir die Verabschiedung einleiten können. Dort ist die Stimmung hektisch. Die Pferde haben nicht den angestrebten Zeitvorteil gebracht. Marat, der eine Übernachtung am Issuk-Kul für uns arrangieren will, sieht seinen Zeitplan besorgniserregend verletzt (es ist schon sechs). Auf meinem Rückweg zur Jurte kommt mir Axel (in der Obhut eines Krigris) entgegen. Als ich die Jurte erreiche beißt mich beinah ein Hund. Und in der Jurte sind nur noch Frauen (nebst Kindern). Vorher waren nur zwei oder drei da, jetzt vielleicht zehn. Verblüfft überreiche ich die Riegel und mache mich aus dem Staub. Da treffe ich Axel wieder. Der Krigris besteht mittlerweile auf Axels Armbanduhr. Daß ich meine Bergstiefel noch am Khan-Tengri brauche, konnte ich vorher glaubhaft versichern. Auch das Tauschangebot (Schuhe gegen Schuhe) hatte ich ausgeschlagen. Nur Robert hat seine Tabakpfeife dagelassen. Dafür durfte Heimo auf dem Pferd zum Mannschaftswagen reiten. In leichter Sorge, ob das Ein- und Umladen meines Gepäcks (Pferd-Mannschaftswagen) trotz Abwesenheit verlustfrei von statten ging und mit immer noch nassen Füßen verlassen wir im Ural-Mannschaftswagen von Dostuck-Trekking den Transili-Alatau. Langsam wird es auch dunkel und es beginnt eine stundenlange und widrige Fahrt dem Issuk-Kul-Highway ganz nach Osten folgend zu einem Campingplatz mit Sandstrand. Wir beziehen kleine Bungalows und essen das lang ersehnte Abendbrot.

 

18. August
Camping am Issuk-Kul und Einkaufen in Karakul
Flug zum basecamp

Gleich nach dem Aufstehen baden wir im Issuk-Kul und ich frage mich, wie man diese kalte Brühe gut finden kann. Die Duschen sind soweit in Ordnung, nur daß das kalte Wasser nicht läuft und das heiße leicht über dem erträglichen Maß liegt, gibt zu einigen Bastelein Anlaß. Ich installiere mit Hilfe von Bannat-Riemen eine Sandale mit der Funktion eines zusätzlichen Brausekopfes und so kann das Wasser auf seinem Umweg weiter abkühlen. Nach dem Frühstück fahren wir auf den Markt nach Karakul. Ein für die Gegend typischer Basar. Merkwürdigerweise gibt es keine Haferflocken für Porridge zu kaufen. Mit offenbar guter Vorbereitung von Marat rüsten wir uns mit Produkten für das Basislager aus. Kolja feilscht mit den Händlern und wir tragen die Waren säckeweise zum Ural. Mir fallen vor allem die vielen Kartoffeln und Zwiebeln auf. Aber es ist auch viel Kohl und Gemüse dabei. Heimo ersetzt die bei den Flußquerungen verloren gegangene Sandale durch ein Paar aus einheimischer Produktion. Er besitzt jetzt vorläufig drei. Am Abend feiern wir Abschied von Wolodja. Mit Vodka natürlich. Dazu frischen Speck und frische Tomaten und Gurken. Wolodja erzählt einiges, Tovo übersetzt. Mir bleiben vor allem die Stories aus der sowjetischen Luftwaffen-Kompanie in Erinnerung. Wolodja war wohl für die Materialbeschaffung zuständig – in der Hauptsache Kerosin, Benzin und Vodka. In Anschau der Berichte von luftfahrt-spezifischen Feier- und deren Folgetagen hoffen wir, daß heute nicht "Tag der Hubschrauberpiloten" ist. Die genialen Trinksprüche habe ich wie immer alle vergessen. Um elf falle ich wie ein Stein in mein durchgelegenes Bett. Um kurz nach 3.00 Uhr klingelt der Wecker. Die restlichen Sachen packen. Und um 4.00 Uhr verlassen wir den Campingplatz in Richtung Maid Adyr. Die Fahrt ist anfangs nur durch Auf-Apathie-Schalten aller Sinnesorgane zu ertragen. Sitze und Geschaukel machen Schlafen unmöglich. Außerdem ist es kalt. Bei großen Schlaglöchern hebt es einen mit Schwung bestimmt einen halben Meter aus den Sitzen. Die hinten gestapelten Rucksäcke rücken Axel und mir in der letzten Reihe bedrohlich auf den Leib. Schließlich baue ich aus meinen Innenschuhen ein Rückenkissen und es gelingt mir tatsächlich etwas einzudämmern. Gegen 9.00 Uhr passieren wir den 3700 m hohen ____-Paß. Es schließt sich eine bemerkenswerte Paßstraße an, die schließlich durch tiefe Täler mit beeindruckenden Felswänden und einem reißenden Strom führt. Wir queren auf Brücken und sehen ab und an Katen, die das Ende der Zivilisation nahe erscheinen lassen. Aber das wird noch getopt durch die verfallenen und verlassenen Industriebauten einer ehemaligen Zinkhütte kurz vor Maid Adyr. In einer Mondlandschaft stehen Betonbauten des späten Industriezeitalters – manche sind nicht vollendet. Auf eine gewisse Weise bezaubern besonders die Plattenbauten der Wohnblocks. Unfertig und doch verfallen. Der Zahn der Zeit nagt am Beton und Rost zerfrißt den Stahl. Ich frage mich, ob sich irgendwann alles in einen Zustand zurückverwandeln wird, in dem nur Experten den ehemaligen menschlichen Aktivitäten nachspüren können. Gegen Mittag erreichen wir einen Schlagbaum und müssen halten. Ein letzter Posten, wahrscheinlich der Hüter zum Tor des Gesetzes (wir treten hinaus), kontrolliert unsere Papiere. Schließlich geht es kurz magadan voran; der Ural meistert natürlich souverän wo vielleicht auch ein Niva an seine Grenzen stieße. Nach einer ausführlichen Paß- und Genehmigungskontrolle dürfen wir den Hubschrauber beladen. Mit uns fliegen noch vier Tschechen. Wir erreichen den Beginn des Inylchek-Gletschers in geringer Flughöhe. Eine eigenartige Landschaft wird sichtbar. Wie eine bewegte See mit vielen Wellen erscheinen erst kleine Geröllhaufen, dann Schnee und Eisberge, zum Teil mit Geröll überzogen. Wir überfliegen eine Mondlandschaft und landen in der Mitte des südlichen Inylchek-Gletschers auf Höhe des Trechglavuj. Hier sieht er nun aus, wie Gletscher so aussehen. Nur die Ausmaße liegen doch deutlich über dem gewohnten. Die Tschechen gehen ins kirgisische basecamp am Nordrand des Gletschers. Wir laufen über den Gletscher an den Südrand ins kasachische Basislager. Warum der Pilot nur Kolja, Tovo und das Gepäck direkt ins Lager fliegt bleibt unklar. Es liegen ungefähr 15 cm Schnee. Der Höhenmesser deutet auf 4000 m, später kalibrieren wir und unter Berücksichtigung des allgemein sehr hohen Luftdrucks kommen auf den richtigeren Wert von etwa 4200 m. Wir beginnen mit dem Zeltbau rund um das bunte Küchenzelt und schaffen noch einiges an Expeditionsausrüstung herbei, das schon eher auf den Gletscher gelandet war. Darunter zwei blaue Tonnen. Die Höhe macht mir nicht direkt zu schaffen, nur fühlt sich alles unwirklich an. Ich denke, das ist der Kreislauf. Das Lager befindet sich genau am Zusammenfluß von Sternchen- (Zwesdotchka-) und Inylchek-Gletscher auf den Moränen, die sich jeweils am Rand befinden. Es ist ganz gut bevölkert, schon bestimmt 50 Alpinisten neben uns. Und eine kleine Zeltstadt, in der auch 500 Platz fänden. Wir siedeln am Ostende, also Richtung Khan-Tengri, der sich aber in dichte Wolken hüllt. Nur manchmal ist der Pik Tschapajew zu sehen. Zusammen mit Matze baue ich Zelt auf, dann entscheiden wir aber auch sein Zelt aufzustellen und so haben wir den ungewohnten Luxus der 1-Mann-Belegung. Dennoch (oder vielleicht deswegen?) ist mein Zelt neben meinem Schlafplatz vollständig mit Ausrüstung belegt. In den späten Nachmittagsstunden zeigt sich der Khan-Tengri das erste mal. Auch wenn er im Schatten des näheren Tschapajev steht, der bei flüchtiger Betrachtung etwa gleich hoch wirkt, sehen sich die Flanken und Grate im Spiel kleiner Wolken und Schneefahnen doch bedrohlich an. Der Sonnenuntergang macht dann klar, wo ganz oben ist. Eine geraume Zeit leuchten nur die pyramidenähnliche, ebenmäßige Spitze des Khan-Tengri im Nordosten und der langgestrekte Grad sowie die Nebengipfel des Pik Pobeda (7439 m) im Südwesten.

 

20. August
Ausflug zum Fuß des Digi-Gletschers

Nach dem Frühstück unternehmen wir einen Ausflug zum Fuß des Digi-Gletschers. Wir gehen westwärts über die Moräne durch das basecamp. Dann folgen drei Stunden zähes Gehen über das Moränengeröll bis wir den Digi-Gletscher erreichen. Wir steigen jetzt durch die Gletschertäler ein bis wir nach einer Stunde einen Platz für die Mittagspause gefunden haben. Das Wetter ist ausgezeichnet und neben dem berühmten Pik Pobeda und den Gipfeln der näheren Umgebung (Digi, Pesni Abaja, Gorki, Trechglavuj) haben wir auch erstklassige Aussicht weit Richtung Osten zum Pik Edelweiß und dem Pik der Militärtopographen. Weil uns der Steinschutt und das ständige Auf und Ab auf der Moräne nerven, suchen Axel und ich den Rückweg über den weitgehend ausgeaperten Inylchek-Gletscher. Wir durchschreiten faszinierende Eisformationen. Manchmal machen sich leichte Sprünge über Spalten oder Bäche nötig.

 

21. August
Akklimatisationstour zum Lager 3 am Sattel (5900 m)

Nach einer Pack- und Räumorgie im basecamp starten wir nachmittags um fünf Richtung Lager 1 (ca. 4300 m), das direkt am Einstieg zum Semenowskovo-, am Nordrand des Inylchek-Gletschers liegt. Gegen 21.00 Uhr stellen wir da unsere Zelte auf und kochen Nudeln und Tee. Ich bemerke, daß ich beim Packen und Räumen mit freien Oberkörper mir selbigen verbrannt habe. Kein Wunder, es zeigten sich fast nie Wolken am Himmel. Das Aufstehen ist wegen der Lawinengefahr auf dem unteren Teil des Semenowskovo-Gletschers schon für 3.00 Uhr geplant und in Erwartung der wenigen Stunden Schlaf, mit feuerndem Rücken und der resultierenden Sinnesverwirrung ob mir warm oder kalt ist, liege ich in meiner Schlafkombi. Mein Puls geht ungewöhnlich schnell, was ich nicht verstehe, einen so großen Höhenunterschied gab es ja nicht. So finde ich keinen Schlaf. 3.00 Uhr stehen wir tatsächlich auf und kochen Instant-Tassen-Suppe und Tee. 4.15 Uhr sind alle startklar, mit Klettergurt und Stirnlampen geht es los. Die Zelte bleiben, mit einer Ausnahme, hier stehen. Nach ca. einer halben Stunde erreichen wir den Semenowskovo-Gletscher, packen unsere drei Seile aus und binden uns ein. Ich habe Kolja und Matze als Seilpartner erwischt und Kolja macht gewaltig Tempo. Die anderen Seilschaften bleiben zurück und sind schließlich wegen der Dunkelheit und hohen Eisbrüchen außer Sichtweite. Mir ist das Tempo oft zu schnell, aber meine Rufe finden wenig Gehör. Nach dem Ende des seracdruchsetzen Nadelöhres mit den offenen Spalten und kleinen Eis- und Firnbrücken bindet sich Kolja aus und geht schneller voran. Auch wir gehen zunächst pausenlos weiter. Der fehlende Schlaf der letzten Nacht und das wenige Trinken während des Aufsteigens setzen mir mächtig zu. Unsere Expedition ist auf zwei Seilschaften zusammengeschrumpft. Tovo und Jana sind mit Magen-, Kälte- und Höhenproblemen zurückgegangen. Die anderen vier gehen jetzt zusammen am Seil und überholen uns. Als die Morgendämmerung vorbei ist und wir uns im breiteren Tal befinden, trinken und essen wir. Es ist in der zehnten Stunde und der Höhenmesser deutet auf (korrigiert) 5500 m. Der Blick nach oben zeigt ein sich weitendes schneebedecktes Tal in dessen Mitte der Weg verläuft. Zuerst sieht man nur die jeweils nächsten Stufen, dann aber recht bald den Sattel auf knapp 6tausend Metern mit seiner vereisten kleinen Steilstufe. Die letzten Stunden werden härter als ich erwartet hatte. Das Tempo sinkt rapide und als die Schneehöhlen schon greifbar nahe erscheinen nimmt die Steigung noch einmal merklich zu. Im Schneckentempo erreichen wir unter den Augen (und zum Teil evaluierenden Bemerkungen) ausruhender Bergsteiger die Höhlen. Wir sind reichlich acht Stunden gestiegen und jetzt im sogenannten Lager 3 auf 5900 m. Lager 2 wird nur selten genutzt. Als wir es bei 5200 m passierten, standen da nur einige verschneite Zelte. Es befindet sich etwas oberhalb des besonders lawinengefährdeten Gletscherauslaufs. Auf dem Sattel fühle ich, daß der Aufstieg an der Grenze der möglichen Verausgabung war. Insbesondere am Anfang war er viel zu schnell. Den ganzen Nachmittag verbringen wir mit dem äußerst notwendigen Faulenzen. Nur Kolja steigt testweise bis auf 6200 m. Heimo verschwindet mit Höhenproblemen im Schlafsack in einer Höhle. Thomas beklagt das krasse Klima und ich sehe ihn (genau wie Axel) mal in der Sonne und mal in der Schneehöhle liegen. Ich liege auf einem Seil im Schnee. Von oben ist es brütend heiß, von unten eisekalt. Trotz der Feststellung, daß es ungünstig ist, schlafe ich ein und wache unterkühlt und überhitzt auf. So vergeht der restliche Tag, ab und an kochen wir und später werden wir uns fragen, warum wir es nicht einmal geschafft haben, die 30 Höhenmeter bis auf den Sattel zu steigen, um den Nord-Inylchek zu sehen. Gegen sieben verschwinden alle in den Höhlen und ich baue eine Lagerstätte für meinen Biwaksack. Als ich gegen Neun nochmal aus dem Sack lunse, leuchtet der Khan-Tengri wunderschön im Abendrot. Aber meine Augen versagen irgendwie die Fokussierung, er bleibt unscharf. Ich denke: Sauerstoffmangel, Gehirn und so. Viel weiter komme ich nicht weil ich erschöpft in einen tiefen Schlaf falle.

 

23. August
Abstieg zurück ins basecamp

Um 5.00 Uhr werde ich von Weckrufen wach. Das Thermometer neben dem Biwaksack zeigt -8° C. Nachdem ich meine Brille gesäubert habe, die Flecken aber nicht verschwinden, diagnostiziere ich Sehstörungen. Der Kreislauf ist auch "unten". Ich schwindele leicht beim schnellen Wechsel in die Vertikale. 6.00 Uhr geht es ohne Seil talwärts. Kolja gibt wieder ein so übermäßig schnelles Tempo vor. Schon um 8.00 Uhr haben wir den Semenowskovo-Gletscher verlassen und nähern uns Lager 1. Über 8 Stunden Auf- und nur 3 Abstieg, was für ein Verhältnis. Noch vor dem Mittag erreichen wir das basecamp, wo uns Schenja mit viel Essen in Empfang nimmt. Am Nachmittag treffe ich Andrej, mit dem wir vor zwei Jahren auf dem Talgar waren. Abends besuche ich ihn noch am Lagerfeuer und er gibt mir einiges an Ratschlägen für den Gipfel, er war Anfang August oben.

 

24. August
Ruhetag

Auf Koljas Ratschlag hin ist heute ausschließlich Ruhetag. Ich widme mich meiner Sehstörung und den im Zelt verstreuten Süßigkeiten. Der blinde Fleck, den ich beim Sehen mit dem rechten Auge zu beklagen habe wird später in Deutschland als Netzhautblutung (nahe der Makula, der Stelle des schärfsten Sehens) geortet. Auch im linken Auge sind Gefäße geplatzt. Möglicherweise geht das auf den geringen Luftdruck bzw. dessen rasche Veränderung, den Sauerstoffmangel im Blut und die starke Anstrengung zurück. Im Moment vermute ich die Sonne als Ursache und hoffe auf Besserung. Nach dem Mittag baut Axel ein Fixseil und wir diskutieren die Sicherung am Gipfel. Wieder gibt Andrej wertvolle Ratschläge. Zum Abendessen kommen zwei Dresdner vorbei, die oben waren und nun noch zum Pik der Militärtopographen wollen.

 

25. August
Aufbruch zum Gipfelversuch

Zum Mittag gibt es Gretchko, das Schenja in der Tat ausgezeichnet zubereitet hat. Zu fünft planen wir den Gipfelversuch: Axel, Michaela und Thomas, Matze und ich. Nach einem letzten Gruppenphoto werden wir herzlich von Schenja verabschiedet (alle andern waren am Vormittag Richtung Pik Edelweiß aufgebrochen, nur Heimo mußte mit Bauchweh und Schüttelfrost im Zelt bleiben). Halb sieben erreichen wir entspannt das Lager 1. In der Abenddämmerung sehen wir einen Bilderbuch-Mondaufgang hinter dem Edelweiß-Massiv. Ich fühle mich schon jetzt sehr viel besser als bei der Generalprobe, nur gelegentliches starkes Nasenbluten stört. Wieder stehen wir pünktlich 3.00 Uhr auf, nur diesmal habe ich ausgezeichnet genächtigt. Und so bereitet der schon bekannte Ein- und Aufstieg, den Axel und ich am Abend noch einmal sondiert hatten, keinerlei Probleme. Wir gehen in einer Seilschaft, geführt von Axel. Diesmal stimmt das Tempo. Im oberen Teil, im weiten Tal, schon in Sichtweite des Sattels machen wir bei den ersten Sonnenstrahlen ein langes Frühstück (11.00 Uhr). Von hier schleicht jeder in seinem Tempo weiter und ich erreiche 12.40 Uhr meinen schon bekannten Biwakplatz. Auch hier läuft heute alles besser. Die Höhe macht sich bei leichten Verrichtungen überhaupt nicht mehr bemerkbar. Zum Nachmittag ziehen ein paar Wolken auf; zur Klage aber kein Anlaß, lediglich zur Sorge. Eher aus Anstandsgründen werfe ich eine Aspirin ein, ich habe nicht den geringsten Anlaß für Beschwerden. Wir planen den morgigen Gipfelversuch: gegen 5.00 Aufstehen, Tee kochen, Riegel essen, losgehen. Bei vielen Wolken oder Schneefall (gleich) Abstieg. Über eine gemeinsame Umkehrzeit können wir uns nicht verständigen (ist ja auch nicht notwendig). Axel spricht eher von 14.00 Uhr, ich eher von 16.00 Uhr, je nach Erschöpfung.

 

27. August
Gipfel des Khan-Tengri

Ich verschlafe. Axel schafft mit einem unverkennbaren he-Alter-was-los? Abhilfe. Leider ein wenig spät. Und Matze stellt fragend fest: wir haben kein Wasser zum Kochen vorbereitet? Haben wir nicht. Axel war da schlauer und trinkt heißen Tee während wir noch Schnee in den Topf schmeißen. Von Thomas und Michaela ist noch gar nichts zu sehen. Während wir um unser kaltes Wasser tänzeln, macht sich Axel – noch vor 6.00 Uhr – schon auf die Socken. Wir trinken schließlich lauwarmen Instant-Tee und jetzt taucht auch Thomas auf – mit viel zu kalten Füßen, wie er bekundet. Ich habe wenigstens die Wartezeit optimal genutzt und komme etwa 7.00 Uhr los. Die Stirnlampe wäre nun eigentlich nicht mehr nötig gewesen, aber wer weiß, was abends ist. Ich bin schnell durch die Steilstufe, wobei ich mich schon wundere wie schnell man doch außer Atem kommt. Dann geht es mit mäßiger Steigung voran und auf einmal passiert es: ein Scheißgefühl (im Wortsinne!) ist da. Ärgerlich aber ausweglos packe ich mich wieder aus. Alle Jacken, Rucksack Handschuhe, Kletter- und Gurtzeug bis auf’s Hemd. Dann lasse ich noch meine Latzhose fallen und lege los. Beim Ankleiden gelingen mir vor allem die Knoten am Gurt optisch nicht so tadellos wie ich sie gerne hätte, aber wir sind ja nicht zur Ausbildung hier. Die ganze Aktion dauert bestimmt 20 min. und als ich fast fertig bin, kommt Matze um die Ecke. Schnell trete ich noch gegen Schnee und Spülgut und sehe wie es sich auf tausend Meter Talfahrt begibt. Ich nutze die Gelegenheit noch um die Daunenjacke gegen die Gore-Tex aus dem Rucksack auszutauschen und die Stirnlampe zu verstauen und folge Matze beim Anstieg. Wir gehen ein gemäßigtes Tempo, das ich aber für richtig halte. Von hinten naht ein Tscheche aus der Gruppe, die mit uns von Maid Adyr aus eingeflogen ist. Den halte ich für schneller und lege ein Frühstückspäuschen ein. Wir reden kurz. Er beklagt sich über die Kälte (Axel hatte morgens -15° C gemessen) und ich blicke mit Ver- und Bewunderung auf seine dünnen Strickhandschuhe. Der Rest seiner Ausrüstung ist modern. Die verbleibende Pausenzeit sinniere ich über die Frage, inwiefern das zeitgemäße westliche climbing-equipment Bergsteigen möglich oder nur bequemer macht. Dann steige ich gemütlich hinterher. Ab und an ist weiter oben, aber wirklich viel weiter oben, Axel zu sehen. Erst hatte ich mich gewundert, daß die Fixseile nicht beginnen, jetzt geht es aber nur noch in Fixseilen voran, was in Verbindung mit der Steigklemme den Aufstieg wirklich extrem erleichtert. Als der Tscheche ein Photo macht, überhole ich wiederum. Kurz danach bin ich wieder unmittelbar hinter Matze, den ich auch bald passiere.Photo: Click here Er kehrt etwa 11.00 Uhr um, als unsere (unkorrigierten) Höhenmesser reichlich 6300 m anzeigen. Ich bemerke keinen (weiteren) Leistungsabfall und versuche gegen 12.00 Uhr als die Sonne in den Hang scheint auch schneller zu werden, um wieder auf schattiges Gebiet zu gelangen. Nach einer Rechtsquerung folgt ein langes Schneefeld in dessen Mitte das Fixseil verläuft. Oben mache ich eine Pause und der Tscheche ruft mir nach, ob sein neuer Verfolger ein Freund von mir sei. Ich kann nichts erkennen, finde aber auf Zuruf heraus, daß es Kolja ist, der heute nacht in Lager 1 gestartet war. Weiter nach rechts führen die Seile aus dem Schneefeld und enden dann auf 6800 m im nicht mehr so steilen Fels. Hier überholt mich Kolja. Noch ein Stück, das weniger steil ist und ich ahne, daß es dem Ende zugeht. Tatsächlich taucht oberhalb eines Schneefeldes Axel auf. Noch einmal folgt ein Fixseil, das den Namen aber nicht verdient wie sich zeigen wird. Ich treffe Axel nachdem er sich abgeseilt hat am Fuße des Schneefeldes, nur ca. 50 Höhenmeter unter dem Gipfel, der aber nicht einzusehen ist. Erfreut über diese Nachricht dehne ich die Pause etwas aus und der Tscheche holt mich ein.Photo: Click here Er reicht mir seine Kamera, ich möge ihn photographieren, weiter ginge es nicht läßt er mich zu meiner Überraschung wissen. Ich erzähle vom nahen Ziel, doch resigniert erwidert er, daß er nicht absehen könne, ob es bei ihm nicht trotzdem noch Stunden dauern würde. Als ich mich ungefähr in der Mitte des finalen Schneefeldes noch einmal umdrehe sehe ich den traurigen Tschechen es doch versuchen und schließlich doch aufgeben. Abgeschreckt nehme ich selbst nocheinmal alle Kräfte zusammen und steige schneller als zuvor und auch schneller als nötig zu Kolja, der neben dem Gipfelgestell sitzt. Zu Koljas Erstaunen breite ich die Reichtümer meines Rucksackes, fast anderthalb Liter Tee und ein reichliches Dutzend Riegel aus. Es ist nachmittag vier Uhr und der Berg unterhalb von Wolken umgeben. Wir sitzen unter blauem Himmel in der Sonne – nur der Ausblick ist gleich Null. Als es in der Ferne kurz aufreißt und der Pik Pobeda erscheint, schießen wir schnell die Gipfelphotos. Dann steige ich noch auf’s Gipfelschneefeld, in dem schon die Spuren Axels zu sehen sind. Ein bequemer Gipfel. Zurück beim Fels und dem Gestell mahnt Kolja schon zum Abstieg. Ich packe ein und 16.35 Uhr verlasse ich den Gipfel. Auf dem finalen Schneefeld erwartet mich wieder das einzelne Seil und Kolja steht ungedultig am Talende des Schneefeldes. Ich lege eine HMS ein und will abseilen. Weit komme ich nicht. Nach etwa zwei Metern löst sich schlagartig das Seil, ich stürze rücklings und die Welt beginnt sich in alle Richtungen zu drehen. Himmelblau und schneeweiß wechseln sich ab. Mein erster Gedanke gilt der HMS und ich überzeuge mich im Geiste von seiner Korrektheit. Dann kommt mir der Ernst meiner Lage in den Sinn. Ich habe den Grad verlassen und sause talwärts. Genau das finale Schneefeld war, neben dem Grad am Einstieg und einer Felsstufe, einer von den drei besonders heiklen Punkten vor denen wir gewarnt wurden. Ein Sturz würde hier mit Gewißheit erst einige tausend Meter tiefer enden. Ich konzentriere mich auf meine Lage zum Hang und das Pickel; jenes läßt sich aber nicht handhaben, da ich mich in das Seil, das nicht gehalten hat einrolle und wie gefesselt bin. Meine Steigeisen berühren den Schnee und es hebt mich zu einem neuen Überschlag aus. Wie im Lehrbuch, denke ich, als ich plötzlich zum Stillstand komme. Zum Glück war das Seil auch talseitig befestigt, das hat den Sturz gebremst. Ich liege im tiefen Schnee und versuche mich zunächst vorsichtig als Entfesslungskünstler. Überall ist Schnee, hinter den Brillen stört er am meisten. Eine Weile dauert es schon, bis ich mich gesammelt habe, dann quere ich vorsichtig in Richtung Kolja. Das finale Seil war nur mit einem großen Eisnagel (ein Hering) im Firn (!) versichert. Die Sachsen werden später berichten, daß sie es lose vorfanden und Kolja wird kommentieren, ich solle die einfühlsame Handhabung von Seilen noch üben und mich dabei am Beispiel Frau orientieren. Und die Expedition findet eine gewisse Logik darin, daß der Jahresletzte die Seile abbaut. Kolja steigt sehr viel schneller ab als ich und es läßt sich nur schwer vorstellen, daß er sich dabei irgendwie sichert. Aber gerade nach meiner Rolle bin ich sorgfältig und lege wenigstens einen Karabiner in die Fixseile, zum Teil auch eine HMS. Der Abstieg zieht sich hin und ich wundere mich immer wieder, daß ich das alles hochgeklettert bin. Den Einstieg erreiche ich gegen acht Uhr, inzwischen im dichten Nebel und leichtem Schneefall. So ist das sichere Gehen nur noch im Schneckentempo möglich. Alles ist grau und konturenlos, der Weg schwer zu erkennen. Amüsiert lande ich ein paar mal im Schnee als ich daneben trete und orientierungslos, nur auf mein Gleichgewichtssinn angewiesen, eingesackt bin. Neun Uhr stehe ich an einer Weggabelung, die ich als Abzweig zu einem amerikanischen Depot in Lagernähe deute und zur Sicherheit rufe ich. Die Antwort kommt prompt und klingt schon sehr nah. Tatsächlich geht es nur noch wenige Meter und das Abseilen auf der Steilstufe folgt. Halb Zehn empfangen mich Thomas und Matze mit heißem Tee. Michaela ist auch noch wach und wir plauschen kurz. Thomas und Michaela haben den Nordgipfel des Pik Tschapajew bestiegen. Aber der Schneefall nervt und bald sind alle verschwunden. Ich klettere in den Biwaksack und muß mich überwinden, die Außenschuhe für die wenigen Stunden auszuziehen. Aber dann siegen doch Anstand und Vernunft. Als ich die Schuhe raus stelle, liegen schon einige Zentimeter Schnee auf mir. Punkt Zehn lösche ich das Licht und schlafe tief und gut bis mich 5.00 Uhr Matze weckt. Die Morgenverrichtungen gehen leidlich von statten (z.B. Fitz in den Steigeisen und im Gurt); auch das Anseilen und genervt rennen wir hinter Kolja am Seil zu Tale. Die Tschechen, darunter der traurige, dem ich zuwinke, folgen uns. Vermutlich ist jetzt keiner mehr am Berg. Nach kurzen Packen in Lager 1 gehen wir gleich weiter und erreichen 11.00 Uhr das basecamp, wo uns Schenja empfängt und beglückwünscht. Den restlichen Tag verbringen wir mit essen und quatschen.

 

29. August
Melancholie der Erfüllung

Carol, Robert sowie Thomas und Michaela brechen Richtung Merzbacher Wiese auf. Wir wollen sie dort am 1. oder 2. September mit dem Hubschrauber abholen. Tovo, Jana, Heimo und Matze wollen morgen zum Pesni Abaja. Axel und ich wollen faulenzen und evt. zwei kleine Tagestouren machen.

 

30. August
Ausflug auf den Sternchen- (Zwesdotchka-) Gletscher

So kommt es auch. Fast. Wir stehen nämlich nicht um sieben auf, sondern erst 9.00 Uhr. Dann geht alles sehr träge. Und erst gegen elf starten wir Richtung Pobeda auf den Sternchen-Gletscher. Das basecamp ist jetzt – wie das am Nordrand des Inylchek auch – völlig verlassen. Gerade die kommerziellen Expeditionen ziehen sich spätestens Ende August zurück. Wir finden einige Müllberge (nicht alles sind Abfälle, die restlos vergammeln), die berühmte Sauna und auch die zwei Hubschrauberwracks, von denen wir schon gehört haben. Wir gehen noch ein paar Stunden auf den Sternchen-Gletscher bis zum starken Gletscherbruch. Auch hier finden sich wieder beeindruckende Eisformationen und als am Nachmittag die Wolkendecke urplötzlich aufreißt, ist auch das ein großartiges Schauspiel. Auf dem Rückweg findet Axel eine Tüte mit Bergstiefeln, läßt sie aber auf der Moräne liegen. Als wir das camp erreichen, haben wir Besuch, die zwei Sachsen sind vom Pik der Militärtopographen zurück, an dem sie leider erfolglos waren. Wir quatschen an dem Abend noch eine ganze Weile, wobei sie die merkwürdige Tatsache bestätigen, daß es keine Haferflocken für Porridge auf dem Markt in Karakul zu kaufen gibt. Morgen wollen die beiden die Tüte mit den Bergstiefeln von der Moräne holen.

 

31. August

Gammeln.

 

1. September
Berg-Aus am Trechglavuj-Hang

Wir stehen wie abgesprochen 7.00 Uhr auf. Das Wetter ist heute (außergewöhnlich) schlecht. Talwärts ist eine Wolkendecke zu sehen. Wir wecken die Dresdner, die Richtung Maid Adyr absteigen wollen und frühstücken gemeinsam. Unser Lärm macht wohl das ganze Lager wach und unser Frühstück dauert auch ganz schön lang. Wir rätseln immer noch, wie die Bergstiefel auf die Moräne kamen und warum den Sachsen die Bergung der Schuhe nicht gelang. Sie hätten sie eigentlich finden müssen. Das dauert bis nach 9.00 Uhr. Dann gehen wir aber in Richtung Trechglavuj-Hang los. Inzwischen hat es sich völlig zugezogen. Gut daß wir wach sind, jetzt würden wir nicht aufstehen. Wir steigen einige 100 Höhenmeter an dem zum Teil recht steilen Hang. Seil und Eisschrauben benutzen wir aber vorerst nicht. Schließlich setzt Schneefall ein und nach einer Pause kehren wir um. So ist diese Tour, auch wegen unserer Gespräche und Rückblicke am Rande, eher der innerliche Abschied vom Khan-Tengri 1999. Nachmittags packen wir und bereiten uns für den Abflug vor.

 

2. September /
3. September
Warten und Funken

Der Abflug findet aber nicht statt. Von 10.00 Uhr an verschiebt er sich stündlich wegen schlechten Wetters bis 15.00 Uhr. Dann auf den 3. September. Kolja geht schließlich auch den 2. Tag ritualisiert mit einer Autobatterie zum Funken. Aber das Wetter bleibt schlecht. Wir malen uns allerhand böses aus und sehen wenigstens die Chancen für eine Visite der kasachischen Naturwunder wie der singenden Dünen oder des Tscharyn-Canyon sinken. Unsere Lebensmittelvorräte gehen langsam zur Neige und wir greifen schon auf die Überbleibsel anderer Gruppen zurück. Ein wenig Sorge bereitet uns auch die Trekking-Fraktion auf der Merzbacher-Wiese. Vor deren Abmarsch ging ein Gerücht, der Hubschrauber könne da nicht mehr landen. Außerdem war vor ihrem Abmarsch noch der 1. September als möglicher Abflugtag im Gespräch und so warten sie schon den dritten Tag. Aber wohin sollen sie gehen, wenn ihnen die Geduld platzt, Absteigen ist genauso unsinnig wie Aufsteigen unmöglich ist ohne Gefahr zu laufen, den Hubschrauber zu verpassen.

 

4. September
Rückflug nach Bayankol und Weiterfahrt nach Almaty

Bei sehr schönem Wetter und wolkenlosem Himmel stehen wir auf. Kurz nach 9.00 Uhr frühstücken wir und ahnen dabei schon, daß wir gleich losstürzen und die restlichen Sachen zusammenraffen müssen. Aber vorerst bleiben wir der Lethargie verfallen. Kurz vor zehn geht Kolja erneut funken und unsere Ahnung bestätigt sich. (Es konnte auch gar nicht anders sein.) Kolja kommt aufgeregt angerannt, dawai, er ist schon gestartet, in 20 min. ist der Hubschrauber hier. Nach Tagen des sturen Wartens ist das trotz sicherer Vorahnung ein gewaltiger Gefühlsumschwung. Ich muß mein Zelt abbauen und den Rucksack sämtlichst packen (Zelt gehört ganz nach unten). Inzwischen zerlegen die besser Vorbereiteten das Küchenzelt und tragen alles zum Landeplatz. Auch der Eichentisch und die zwei blauen Tonnen gehen vollbeladen wieder mit. Der Adrenalinspiegel erfährt dann noch einen zweiten Schub: als wir den Hubschrauber schon hören, kommt (völlig fertig) Carol aus dem Gletschereis. Er sei der Erste, die restliche Merzbacher-Gruppe noch unterwegs. Ich rechne damit, daß der Hubschrauber unter diesen Umständen gezwungen sein wird, den Rotor zum Stillstand zu bringen und zu warten. Weit gefehlt. Die Piloten scheuen offenbar das wahrscheinlich für die Stabilität kritische Herunterfahren der Rotordrehzahl. Schon die Landung ist, genau besehen, ein umständlicher Vorgang. Zunächst kreist der Hubschrauber über uns und wirft eine Rauchbombe ab. So wird der Wind und dessen Richtung deutlich. Dann setzt er an und noch mit reichlich Bodenabstand öffnet sich die Tür und ein Mitglied der Besatzung springt beim ersten Bodenkontakt heraus. Neben dem Cockpit stehend weist er in eine sichere Position der Reifen zwischen den Steinbrocken der Moräne ein. Sobald diese gefunden ist, beginnt das hektische Beladen der Maschine. Unter den kreisenden Rotorblättern gehen alle intuitiv, aber ohne Notwendigkeit, gebeugt. Länger als 10 min. dauert der Aufenthalt nicht. Wir starten zur Suche der drei Merzbacher-Nachzügler aus der Luft. Lang dauert es nicht bis sie gefunden sind, wenngleich es nicht einfach ist, Menschen aus der Luft in dem gewaltigen Gelände auszumachen. Sie steigen zu und wir beginnen einen wunderbaren Aussichtsflug. Kreisend gewinnen wir Höhe über dem südlichen Inylchek. Auf reichlich 6tausend Metern passieren wir nahe dem Pik Gorki den ersten Kamm. Keine Wolke versperrt uns die Sicht. Noch im morgendlichen Schatten sehen wir den Khan-Tengri-Gipfel von Norden. Der nördliche Inylchek sieht – wie schon vom Sattel – sehr viel trister aus, genauso der sich anschließende Bergkamm. Wir verlieren an Höhe und die Landschaft wird freundlicher, die Berge wieder grün. Nach einer halben Stunde landen wir in Bayankol an der chinesischen Grenze. Genauso hektisch wie vorhin ein, laden wir jetzt aus und der Hubschrauber fliegt weiter. Auf uns wartet ein Mannschaftswagen und reichlich Proviant einschließlich drei Flaschen Kognak. Marat werden wir aber erst in Almaty treffen. Wir halten eine Vesper, beglückwünschen uns und feiern die gelungene Expedition. Am Nachmittag brechen wir Richtung Almaty auf, wo wir nach Mitternacht wieder im Hotel "Almaty" ankommen.

 

5. September
Bummeln in Almaty und Rückreise über St. Petersburg nach Berlin

Ich stehe schon acht Uhr auf und beginne eine Duschorgie. Es schließt sich nun eine Creme-Orgie an. Vor allem die Hände haben arg gelitten. Überall kleine Wunden. Schenja kocht und Marat organisiert. Ich sehe begeistert eine kasachische Wunschmusiksendung (jeweils zwei Clips im k.o.-Verfahren gegeneinander) mit Zuschauerbeteiligung im einheimischen MTV. Leider verwählen sich die Kasachen immer und ziehen mehrfach so Billig-Pop wie die Spice Girls den Chemical Brothers vor. 12.00 brechen wir dann in die Stadt auf. Leider regnet es. Eine von Heimos in Karakul neu erworbenen Sandalen ist nun endgültig zerfetzt und so trägt er jetzt erfolgreich ein deutsch-kirgisisches gemixtes Doppel (oder muß es an Bergsteigerfüßen joint venture heißen?). Auf dem zentralen Markt starte ich mit einigen tausend Tenge (etwa $ 20) und kaufe zunächst Honig und allerhand Vodka. Der Buchladen hat sonntags leider geschlossen. Kartenmaterial können wir so nur im Schaufenster bewundern. Das restliche Geld lege ich daher in Aspirin (kostet Bruchteile des deutschen Preises) und Musik an. Die Empfehlung von zwei hübschen Kasachinnen im Musikkassettenkiosk (Ruki) wird jedoch ein Fehlkauf, irgendwie hatte ich mich mehr auf die Beratung als die Hörproben konzentriert. Ein Sampler mit russischem Kirmes-Techno (die Verkäuferinnen grinsten) ist noch dabei (sowas gefällt mir immer), eine Kassette von "Kino" und zuletzt eine CD mit Gitarrenrock (Mumij Troll), das Cover war vielversprechend und die Musik erfüllt überraschend meine Erwartungen. Nachdem die Neuanschaffungen eingepackt sind, schätze ich den Rucksack auf 30 kg. Ich räume noch einiges ins Handgepäck, aber dann beginnt die Abschiedsfeier in Marats Haus und ich fürchte reichlichen Vodkakonsum und Probleme beim anschließenden Check-In am Flughafen. Photo: Click here Die Feier wird schön, Marat hält Tischreden, die ich wieder alle vergesse. Es gibt prima zu Essen, Schenja hat noch einmal mächtig gezaubert. Außerdem ist sie fast nicht wiederzuerkennen: frisiert und geschminkt, schade daß an diesem Abend nicht getanzt wird. Wie oft in der Ex-Sowjetunion gibt es Kaviar – und wie immer vertrage ich ihn nicht (wirklich, Freunde, das ist mehrfach getestet, der Vodka trägt nur insofern Schuld, als daß ich im Übermut immer wieder von den Fischeiern esse weil sie so gut schmecken). Als ich meine Auszeit beendet habe, sehe ich Marat singend mit Gitarre. Gegen eins müssen wir – viel zu früh – aufbrechen. Den Check-In überlebt eine Flasche Kognak im Handgepäck leider nicht und trotzdem werden Tenge 1510 für Übergepäck fällig. Marat greift mir unter die Arme. Wir starten 4.00 Uhr und mir ist speiübel. Ich nehme noch den Kaffee mit und schlafe dann bis zur Landung in St. Petersburg durch. Diesmal begeben wir uns gleich zu einem Pulkovo-Mitarbeiter und flunkern wir hätten kein gültiges Visum für Rußland. Die Masche zieht und er dirigiert unser Gepäck in Richtung Berlin. Auch besorgt er uns Bordkarten und wir bleiben im Transit. Das hat Folgen. Nach dem Sicherheitshinweisen der Stewardessen und kurz bevor es losgehen kann, werden die Triebwerke wieder heruntergefahren und drei Damen im grünen Grenzer-Kostüm betreten zur Paßkontrolle das Flugzeug. Vermutlich haben sie eine Differenz zwischen vergebenen Ausreisestempeln und Passagieren an Bord festgestellt. Als erstes fällt Axel auf, der kein Visum in seinem Paß besitzt, sondern nur auf meiner vom kirgisischen Konsulat gestempelten Gruppenliste vermerkt ist. Mein Hinweis wird zuerst ignoriert, sowas sei nicht möglich bzw. kein gültiges Visum. Schließlich finde ich doch Gehör, aber nun trauen die Damen der Sache nicht. Der Chef wird geholt und wir sehen die Abteilung vorn im Flieger diskutieren. Dann geht es doch und wir bekommen auch noch einen Ausreisestempel (dabei waren wir gar nicht drin). Mit einer dreiviertelstunde Verspätung starten wir – und landen doch fast pünktlich in Berlin. Mit dem Zoll gibt es keine Probleme und glücklich-wehmütig trinken wir im Flughafenrestaurant noch gemeinsam ein Bier zum Abschied.

 





Update: 4. Oktober 1999
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